Eine Schrift, in der es zwei Dutzend Bilder für ein einziges Pronomen gibt! Kein Wunder, dass Generationen von Wissenschaftler:innen sich am Maya-
Schriftsystem die Zähne ausgebissen haben. Denn die Maya-Schrift ist hochkomplex. Neben Wortzeichen (Logogramme), die quasi das Bezeichnete bildlich darstellen, gibt es auch Silbenzeichen (Syllabogramme), aus denen das gesprochene Wort zusammengesetzt wird.
Und das in vielen Variationen. Denn: „Die ‚Künstler‘, wie sich die Maya-Schreiber nannten, hatten eine Furcht vor Wiederholungen“, erläutert Dr. Christian Prager, Koordinator des Projekts „Textdatenbank und Wörterbuch des Klassischen Maya“, das vom Bonner Professor Nikolai Grube geleitet wird. „Hatten Sie ein Silbenzeichen oder Wortzeichen im Text bereits genutzt, wurde das gleiche Wort aus anderen Teilen neu zusammengestellt.“ Die Folge eines solchen „horror repetitionis“: Vom Personalpronomen „u“ sind mindestens 20 Varianten bekannt. „Bei einer solchen Bandbreite hat man früher logischerweise nicht bemerkt, dass es sich um dasselbe Wort handelt“, stellt Prager fest.
Fasziniert von Kindesbeinen an
Antike Schriften, insbesondere die der Maya, haben Prager schon seit seinem elften Lebensjahr fasziniert. Erst standen antike griechische, dann ägyptische Schriftsysteme in seinem Fokus. „Dann bin ich an ein Buch geraten, in dem es um die Maya-Schrift ging, und dass sie noch nicht entziffert seien. Die Faszination hat mich nicht mehr losgelassen.“ In der Schulzeit ging der in der Schweiz geborene Deutsche in die Basler Uni-Bibliothek, lieh sich Bücher dazu aus, nahm früh Kontakt zu Forschenden auf.
Was als Hobby begann, ließ ihn nicht mehr los: Er schmiss seinen Bürojob, holte sein Abi nach, zog zum Studium nach Bonn. „Hier war der einzige Standort, wo Mayaschrift im Curriculum stand. Mich faszinieren die aufgeschriebenen Gedanken der Vergangenheit.“
Digitale Tools zur Entschlüsselung
Eine Faszination, die viele im acht-köpfigen Team von Prof. Nikolai Grube von der Bonner Abteilung für Altamerikanistik teilen. Um die Entschlüsselung von Hieroglyphentexten zu vereinfachen, arbeiten sie seit 2014 am digitalen Maya-Wörterbuch. „Wir haben damals damit begonnen, das Rad neu zu erfinden, um Inschriften zu dokumentieren, analysieren und herauszugeben“, erklärt Prager. Gefördert wird das Projekt von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste und der Union der Deutschen Akademien der Wissenschaften. Es war damals eines der ersten Projekte der Digitalen Geisteswissenschaften (Digital Humanities) in Bonn.
Gemeinsam mit der Universität Göttingen schufen die Bonner Forscher:innen bis vergangenes Jahr die digitale Infrastruktur für eine virtuelle Forschungsplattform. Seitdem erfassen und verzeichnen sie darin die Zeichen, samt historischer Erfassungsdaten aus älteren Katalogen. 832 Zeichen finden sich aktuell im Zeichenkatalog, davon ist etwa die Hälfte sicher entziffert. „Etwa 1400 Zeichen werden es am Ende sein“, schätzt Prager.
Ergänzt wird das Projekt durch eine Open-Access-Bilddatenbank mit 40.000 Fotos von archäologischen Stätten, Grabungen, Gebäuden, Stelen und anderen Monumenten, sowie Vasen und Kleinfunden.
Auf vielen sind Hieroglyphentexte zu sehen. Die Fotos zeigen mehr als die Hälfte der bekannten Maya-Inschriften.
Texte automatisiert lesbar machen
Das Maya-Wörterbuchprojekt soll nicht nur Hieroglyphen verzeichnen und dokumentieren, sondern Texte zentral lesbar machen, und aus dem Wortschatz dieser Texte letztendlich ein Wörterbuch des Klassischen Maya erstellen. Dazu wurde ein digitales Werkzeug in die Forschungsplattform integriert, das eine automatische Trans-
kription, Transliteration von Schriftstücken bietet, dank Annotation die Textarbeit erleichtert und Übersetzungen auf Sinnhaftigkeit prüft.
Ein weiterer Baustein ist ein Tool zur Berechnung von Kalenderdaten und astronomischen Informationen. Denn viele Inschriften auf Säulen, Stelen oder Vasen erwähnen außer genauen Datumsangaben auch astronomische Ereignisse. „Die klassischen Maya feierten Nullpositionen des Kalenders rituell, vergleichbar mit unserem Neujahr, und errichteten dabei Stelen und andere Monumente. Auf denen stellten sie gesammelt historische Ereignisse taggenau dar“, so Prager, der inzwischen wie viele im Team die Maya-Schrift fließend lesen kann.
Verlorene Schriften
Zehntausend bis fünfzehntausend Hieroglyphentexte in und an Gebäuden, auf steinernen Monumenten sowie Gefäßen und Schmuckstücken sind bis heute erhalten. „Etwa 60 Prozent aller bekannten Maya-Texte sind aktuell plausibel lesbar“, so Prager. Dass man die Maya-Schrift – im Gegensatz etwa zur Schrift der Indus-Kultur – überhaupt entziffern konnte, liegt an glücklichen historischen Fügungen. In den modernen Maya-Sprachen haben sich Wörter und Aussprachen erhalten, zudem gibt es Aufzeichnungen spanischer Mönche aus dem 17. Jahrhundert.
Übrigens: Vermutlich gab es unter den Maya ein breites Schriftverständnis – schreiben konnten aber nur Einzelne. „Wir wissen, dass die Mayaschreiber oftmals zur Königsfamilie gehörten“, so Prager. Sie signierten ihre Werke namentlich als „itz‘at“, als Künstler, „tz’ib“ Schreiber und „uxul“ Skulpteure – was für ein hohes Selbstbewusstsein spricht. Ganz ungefährlich war der Job als Schreiber nicht: „Schreiber wurden in Kriegen gefangengenommen, entführt und teils getötet“, so Prager. „Steinmonumente von anderen Königen wurden zu kleinsten Bruchsteinen zerschlagen, Gesichter von Herrschern ausgeschlagen.“
Die „damnatio memoriae“, die Auslöschung aus der Geschichte, war auch unter den Maya gang und gäbe.