Der alte Filmclub
Nicht weit entfernt vom Uni-Archiv öffnet Becker eine unscheinbare Tür hinab in den Untergrund. Schummriges Licht leuchtet dort die Flure aus. Kurz dahinter hängen alte Filmplakate an den Wänden. Es ist der Weg zum ehemaligen Filmclub. Statt abgewetzter Polstersessel und Filmdosen füllen nun Regale mit Akten den Raum. Die Wände sind bemalt mit Motiven aus Filmen. „Mir würde das Herz bluten, wenn es verschwindet. Diese Räumlichkeiten sind ein Zeugnis studentischer Kultur“, berichtet Becker mit Blick auf die kommende Sanierung.
Bis in die 1980er Jahre schauten die Studierenden regelmäßig im Hörsaal I Filme an. Dann ging der 16mm-Filmprojektor kaputt. Zugleich begannen Sanierungsarbeiten an zwei Hörsälen, die sich über zehn Jahre hinzogen. Erst 1996 konnte der Filmclub wieder mit neuem Projektor Filme flimmern lassen. Doch in der Zwischenzeit hatten die bequemen Cineplex-Kinos den Markt aufgerollt. Die Studierenden wollten nicht mehr auf harten Holzbänken sitzen - der Filmclub löste sich auf. Versteckte Spuren finden sich auch oberhalb des Kellers: In Hörsaal I entdeckt man die Projektor-Kammer, gegenüber des Eingangs liegt die Kino-Kasse.
4,5 Kilometer Archiv unter Gewölbedecken
Krakengleich zieht sich das Archiv durch weite Teile des Kellers. Hier unten schlummern unter anderem mehr als 200 Jahre Universitätsgeschichte: Matrikelbücher, bunte AStA-Ordner, Personalakten, Grundrisse und Fotos. 4,5 Kilometer Akten auf tausend Quadratmeter. Gelegentlich zieht es Mitarbeitende der Personalabteilung hier hinunter, ansonsten liegt es an den wachsamen Augen der Archivmitarbeitenden, die brummenden Luftentfeuchter zu entleeren, die Akten aufzuarbeiten und in ihren grauen Archivkartons für Generationen zu erhalten.
Auch das Archiv bereitet sich auf einen Umzug vor. Eine moderne Kompaktanlage ist im Keller des ehemaligen Deutschen Herolds untergebracht. Das sei natürlich besser für die Akten. „Aber dieses Flair und Führungen, wie wir sie hier anbieten können, wird es dann so nicht mehr geben. Wir werden sehr viel Charme verlieren“, meint Becker etwas traurig.
Seit 1995 kümmert sich der Archivar nicht nur um das Gedächtnis der Universität , sondern auch um die Präsentation ihrer Geschichte. „Mit der Universität Bonn fühlte ich schon immer verbunden, besonders wegen der Atmosphäre“, stellt Becker fest. Das Hauptgebäude fasziniert ihn seit seiner Studienzeit. Eine seiner größten Verdienste war dementsprechend die Einrichtung des Universitätsmuseums 2013, mit einem eigenen Eingang über dem Kaiserplatz.
Bomben- und Hochwassersicher
Becker führt uns in einen der größeren Archivbereiche unter einer Gewölbedecke, dessen Ursprünge aus der Bauphase zwischen 1679 und 1715 liegen. In den 1930er oder 1940er Jahren wurden die Decken verstärkt. „Denn dieser Raum hier diente auch als Luftschutzkeller für einige Hundert Menschen“, weiß Becker.
Viel Glück im Unglück hatten die Mitarbeitenden beim verheerenden britischen Luftangriff am 18. Oktober 1944. Denn die angesetzten Feierlichkeiten und Semestereröffnung am Gründungstag der Uni hatte der Rektor vorsorglich abgesagt. Als um 11 Uhr die Sirenen heulten, flüchteten die Verwaltungsmitarbeitenden in den Bunker und blieben geschützt. Der nahe Ostflügel an der Blauen Grotte wurde völlig zerstört.
„Wir sind bomben- und hochwassersicher“, stellt Becker über die Archiv-Räumlichkeiten fest. Nur der Klimawandel mache den Archivar:innen zu schaffen. Die Luftfeuchte in den Kellern steigt. Zudem führten die häufigeren Starkregen zu Wassereinbrüchen über die Fluchtwege. „Wir haben zwei bis drei Tage geschippt“, so Becker. Und: Es wurden sogar Archivalien an Orten ohne Wasserzugang beschädigt – das Wasser verteilte sich unbemerkt über alte, nicht mehr benutzte Rohrsysteme. Die Schäden wurden erst spät bemerkt.
Die Todeszelle
Vom Hauptgang ab geht es links in einen Nebenraum und durch Kompaktanlagen zur Aufbewahrung von Archivgut hindurch. Leise quietschend öffnet sich die grüne Metalltür mit dem Schriftzug „Todeszelle“ zu einer der vielen Außenkammern. Die Räumlichkeit mit dem scherzhaft gemeinten Namen dient als Ablage für Akten, die sowieso „kassiert“, also turnusgemäß vernichtet werden sollen. „Bei Regen kommt fingerdick Wasser durch die Wände. Hier kann man nichts lange lagern“, erläuterten Becker. Menschen finden sich dort selten ein: Sie durften nur bei den berühmten Mitternachtsführungen mit Grablichtern und Gruselgeschichten schaudern.
Ein Wehrturm zum Schutz gegen die Bevölkerung
Ganz in der Nähe ragen Felsbrocken aus Basalt und Ziegelschichten aus der Wand heraus. Ein Teil der Bonner Stadtmauer? Nein, so Becker, diese läge 200 Meter entfernt. „Wir können aus einem alten Stich von 1598 erahnen, dass früher ein alter Wehrturm an dieser Stelle stand“, weiß er. Die massiven Reste davon wurden ins neue Kurfürstliche Schloss integriert. Eine Besonderheit aber gäbe es, erläutert der Archivar: „Der Wehrturm am Haupteingang war nicht in die Stadtmauer integriert, sondern in einen Vorgängerbau. Er richtete sich also nicht gegen äußere Feinde, sondern gegen die eigenen Bürger“.
Rosa für Frauen, grün für Männer
Früher trugen sich die Studenten und später auch die Studentinnen in dickleibige Bücher ein. Nach dem Krieg kamen stattdessen bis 1968 Karteikarten in zwei Farben in Benutzung: Männer erhielten grüne Karten, Frauen rosafarbene.
Seit Wintersemester 1896 waren Frauen an der Bonner Universität - als Gasthörerinnen oder angehende Lehrerinnen. Sie besuchten humanistische Fächer, Examen durften sie nicht machen. Generell hatten Sie es damals schwer: „Wenn die Studenten ihr Missfallen mit Fußscharren kundtaten, durften sie nicht hinein. In Berlin ist das passiert. Die Rheinländer waren galanter, die haben den Damen dann den Platz angeboten“, weiß Becker. Ab 1908 waren Vollstudentinnen zugelassen und stürzten sich, Marie Curie als Vorbild, auf die Naturwissenschaften.
Interessant sind die historischen Abgangszeugnisse. Becker präsentiert ein Blatt von Johann Georg Abels aus Neuss. Auf diesem sind Noten vermerkt, aber auch die Testate der Professoren, und Erläuterungen zum Verhalten der Studierenden. Dort ist auch vermerkt, ob Studierende in den seit 1819 verbotenen Verbindungen aktiv waren – und sich „sittlich“ verhalten hatten. „Sittlich ist dabei ein weiter Begriff“, so Becker, das beginne bei Beleidigungen.
Die berühmteste Akte sei die von Karl Marx, der wegen Lärmens und Trunkenheit in den Karzer musste. „Das hat er natürlich geplant“, meint Becker. Denn der Karzer unter dem Dach des Koblenzer Tors war nicht besonders abschreckend: Karzerstrafen wurden sogar bewusst geplant. Denn die Tür des Karzers ließ sich nicht verschließen, der Wächter, Pedell genannt, musste tagsüber in der Uni arbeiten, sodass man sich die Zeit am Rhein, beim Kartenspielen oder Spazierengehen vertrieben hat.
Die „Fluchttunnel“
„Das ist neu“, sagt Becker plötzlich, als wir vor der neuen Brandschutztür einer winzigen Kammer stehen. Der Schlüssel passt. Darin ist eine Leiter, drei Meter reicht sie in die Höhe mit dicken, befestigten Versorgungsleitungen. „Er führt 140 Meter lang von der Schlosskirche bis unter die Cafeteria. Dann hört der Gang auf,“ weiß Becker. Der historische Zweck ist unklar, ansonsten ist der auch nicht unterkellert. „Möglicherweise dient er als Druckausgleich – so genau kann man es nicht sagen“, berichtet Becker. Der mehrtägige Brand von 1777 vernichtete viele Bauunterlagen.
Ist das der berüchtigte Fluchttunnel nach Poppelsdorf? Becker hält nicht viel davon. „Bonn ist sehr hügelig. Richtung Rhein und Poppelsdorfer Schloss ist die Strecke abschüssig. Dazwischen liegt der alte Rheinarm, die Gumme.“ Gäbe es einen Tunnel zum Schloss, hätte der Kurfürst durchs Grundwasser waten müssen. Zudem sei eine Flucht zum ungeschützten Poppelsdorfer Schloss, wo die Feinde als erstes stünden, wenig logisch. „Sicherer ist eine Flucht über den Rhein – aber bis dahin reichten die ursprüngliche Schlossflügel ja fast bereits. Da braucht es keinen eigenen Tunnel“, so Becker.
Ein Kriechgang an der Straßenseite
Ein weiterer solcher Gang findet sich unterhalb des Treppenhauses der Aula. Am Rande eines Gewölbes führt eine Leiter nach oben zu einer Holztür. Im Kriechgang dahinter liegt zentimeterhoher Schmutz, man blickt durch schmale Lichtöffnungen auf die Straße. Menschen flanieren vorbei.
Um herauszufinden, was es mit dem rund 20 Meter langen Bereich auf sich hat, muss man tief in die Geschichte des Schlosses einsteigen. Ferdinand von Wittelsbach erweiterte eine erste kurfürstliche Residenz um einen Eckflügel, parallel zur heuten Straße am Hof. „Das Gewölbe hier ist Teil dieses Ferdinandbau“, stellt Becker fest, Teile davon gehören gar zu einem noch älteren Stadthaus, darauf deuten zeitgenössische Verstärkungen hin. Doch der Kriechgang liegt außerhalb der dicken Mauern – woher stammt er dann?
Der Ferdinandbau wurde in der Belagerung 1689 zerstört. Der Kölner Erzbischof und Kurfürst Joseph Clemens von Bayern (1671 – 1723) und sein Nachfolger Clemens August (1700 – 1761) bauten eine prächtige, vierflügelige Schlossanlage, die 1777 abbrannte. Der bescheidene Nachfolgebau bestand aus einem Riegel und zwei Türmen an der Hofgartenseite. Nach Gründung der Universität 1818 wurde das Schloss rasch zu klein. 1926 erweiterte die Universität den Bau, angelehnt an die kurfürstlichen Pläne, mit vier Seiten und Türmen. Das Schloss an der Straßenseite wurde um zwei Meter verbreitert, und dabei entstand ebenjener Kriechgang mit gestampftem Lehm, der vermutlich für Versorgungsleitungen genutzt wurde. Die Geschichten um geheime Gänge kann sich Becker gut erklären: „Wir blicken zurück auf 400 Jahre Umbauten, auf zugemauerte kleine Gänge und Kammern, deren Zweck wir uns nicht sofort erklären können. Daher stammen auch die Gerüchte.“
Pferdestall und Probierstube
Plötzlich öffnet sich ein saalgroßer Bereich mit breiten Bögen, deren Zweck lange rätselhaft blieb. Inzwischen weiß Becker: „Das ist der einzig verbleibende Rest des Kellers des ersten Residenzschlosses aus dem 16. Jahrhunderts. Die Bögen dienten als Zugang, und hier unten waren einst die Pferde untergebracht, mit Ausgang zum Etscheidhofs.“
Am Rande führt eine Treppe hinauf. Oben prangt der Schriftzug „Zum alten Kurfürst“, hinten ist das Wappen der Kurfürstenbrauerei angebracht. Das Gewölbe war bis in die 1970er Jahre vermietet an das ehemalige Weinhaus Streng im Mauspfad und diente als Probierstube. Deren Weinlager befand sich im Schloss – heute finden sich im alten Pferdekeller Paletten mit Toilettenpapier.
Kühe auf der Hofgartenwiese?
Auch einen weiteren Wandermythos räumt Becker aus. Seit 1847 gab es eine Landwirtschaftliche Hochschule in Bonn, mit der Legende: Jeder Professor hätte das Recht, eine Ziege auf der Poppelsdorfer Allee weiden zulassen. 1934 wurde die Hochschule zur Fakultät, und aus der Ziege eine Kuh, mit Weiderecht auf dem Hofgarten. „Völliger Unsinn. Wir sind im 19. Jahrhundert gegründet worden. Bei modernen Unis war so eine Art der Besoldung unüblich“, erklärt Becker. Eine Kuh auf dem Hofgarten gab es dennoch: Auf dem Sommerfest 1960 überreichten Studierende dem Rektor eine Kuh.
Fahrradkeller und Proberäume
Etwas abseits liegt der Zugang zum alten Fahrradkeller in der Universität. Eine steile Treppe führt hinab, ein Schild weist auf die Funktion hin. Im Krieg diente der Bereich als Luftschutzkeller, darauf weisen Phosphor-Leuchtstreifen an der Wand hin. Um die Ecke geht es in einen alten Tanzsaal. Hier soll bereits der Journalist Ulrich Wickert mit einem Ballett das Tanzbein geschwungen haben. Vom Parkett am Boden ist nur wenig zu erkennen, ein Hinweis liefern die alten Poster und Plakate an der Wand.