23. Mai 2023

„Charisma kann desaströse Folgen haben“ „Charisma kann desaströse Folgen haben“

Interview mit Dr. Hendrik Ohnesorge

Welche Rolle spielen Macht und Mächtige, wenn es um das Schicksal der Welt geht? Welchen Einfluss hat dabei Charisma? Und haben nur Menschen in politischen Führungspositionen Macht – oder wie mächtig ist eigentlich Greta Thunberg? Rund um diese Themen ist nun ein Sammelband mit dem Titel „Macht und Machtverschiebung“* erschienen. Im Interview mit Dr. Hendrik Ohnesorge vom Center for Global Studies sprachen wir darüber.

Churchill wird Charisma zugeschrieben
Churchill wird Charisma zugeschrieben © gemeinfrei
Alle Bilder in Originalgröße herunterladen Der Abdruck im Zusammenhang mit der Nachricht ist kostenlos, dabei ist der angegebene Bildautor zu nennen.

Zum Interview als Podcast

Herr Ohnesorge, wann hat jemand Macht?

Nimmt man Max Webers berühmte Definition als Vorbild, bedeutet Macht die Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen durchzusetzen, auch gegen den Widerstand anderer, gleichviel, worauf diese Chance beruht. Uns interessiert der Nachsatz besonders, denn es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, um geändertes Verhalten bei jemandem hervorzurufen.

Und die wären?

Es gibt natürlich einerseits den Zwang, in der internationalen Politik etwa mithilfe militärischer Gewalt. Daneben gibt es wirtschaftliche Anreize. Diese beiden Dinge, Zwang und Anreize, fassen wir in der Forschung als Hard Power zusammen. Auf der anderen Seite gibt es noch Überzeugung und Anziehung. Sie können Überzeugungsarbeit leisten oder Anziehungskraft ausüben, also etwa mit ihren Ideen jemanden gewinnen. Das wäre im Kern die Soft Power.

Warum ist es wichtig, dabei die Persönlichkeit von Entscheidungsträgernzu berücksichtigen?

Es ist eine alte Debatte rund um das Zusammenspiel von Akteuren und Strukturen: Welche Rolle können einzelne Entscheidungsträger spielen? Wie viel wird von äußeren Einflussfaktoren vorgeschrieben? Und ein Blick auf konkrete historische Fälle und die Quellen zeigt durchaus den Einfluss Einzelner in bestimmten Situationen: Nehmen wir John F. Kennedy während der Kubakrise. Er ging nach und nach die zur Verfügung stehenden Optionen, wie auf die Entdeckung der sowjetischen Raketen zu reagieren sei, aus seinem persönlichen Erfahrungsschatz und seiner Prägung heraus durch und kam zu dem Schluss: Wir müssen die Fäden des Handels in der Hand halten, wir können nicht eine sofortige Invasion Kubas anordnen oder sie getrennt betrachten von möglichen sowjetischen Gegenreaktionen. Er entschied sich, kurz gesagt, auf Grund seiner Persönlichkeit und seiner Erfahrungen, gegen die unmittelbare Invasion auf der einen oder verbale Mittel auf der anderen Seite – und für die Quarantäne.

Hätte nicht jemand anderes genauso gehandelt?

Da sind wir bei den berühmtem „Was wäre wenn“-Fragen. Für den Fall der Kubakrise lässt sich sagen: Es gab eifrige Befürworter von anderen Optionen. Und kennen zum Beispiel das Telefonat Kennedys mit seinem Amtsvorgänger Eisenhower während der Krise im Oktober 1962, der Kennedy sinngemäß empfahl: „Das einzige, was die Sowjets verstehen, ist militärische Stärke. Kümmern Sie sich nicht so sehr um mögliche Gegenreaktionen, gegenüber Berlin zum Beispiel, wir müssen da jetzt Stärke zeigen.“

Mit Kennedy stand eine höchst charismatische Person an der Spitze der USA. Wann hat man Charisma?

Wir müssen da etwas spitzfindig sein. Charisma hat man nicht, Charisma bekommt man von anderen verliehen. Der griechischen Wortherkunft nach bedeutet ‚Charisma‘ daher auch ‚Gnadengabe‘, es ist also streng genommen ein Geschenk.

Nach Max Weber gibt es drei unterschiedliche Arten von Charisma. Erstens, das reine, genuine Charisma, das eine Person als Individuum zugesprochen bekommt, auch ohne Amt. Das zweite ist familiäres oder Erbcharisma, wie wir es etwa aus Königshäusern oder Adelsfamilien kennen. Dabei spielt auch die Übertragung von Charisma durch Rituale eine Rolle. Und dann gibt es als Drittes noch das Amtscharisma. Man wirkt in seiner Position, qua Amt, charismatischer. Ein Beispiel ist die US-Präsidentschaft oder das Papsttum. Im Moment der Amtseinführung wird einem also ein bestimmtes Charisma als Amtsbonus zuteil. Die drei Typen müssen sich nicht ausschließen, sie können zusammenwirken und sich sogar verstärken, wie man am Beispiel Kennedy gut sieht. Andererseits wurde aber nicht jeder US-Präsident nach Amtseinführung zum Charismatiker.

Kann man Charisma antrainieren?

Nein, es ist, wie gesagt, eine Gabe, ein Geschenk. Nicht jeder hat es, nicht jedem steht es zu. Es liegt zudem im Auge des Betrachters. „Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen“ sagt Faust zu seinem Famulus Wagner. Auch wenn „Charisma Coaches“ viel Geld mit der Behauptung verdienen, dass jeder charismatisch sein könne. Charisma muss auch mit der Realität zusammen gehen. Ansonsten wirkt es schnell lächerlich, wenn man etwa nicht erfüllt, was man verspricht, sondern sich nur inszeniert oder durch andere inszeniert wird. Ein bestimmtes Maß an Training in der Ausübung ist wohl möglich, es bedarf aber einer Substanz dahinter.

Ist Charisma etwas Gutes?

Charisma ist grundsätzlich wertfrei. Natürlich gibt es auch Beispiele dafür, wie charismatische Persönlichkeiten als „gute Anführer“ auftreten. Aber es können schrecklichste Dinge auf Grund charismatischer Führung geschehen. Auch da spielt Inszenierung eine große Rolle, wie wir etwa bei Adolf Hitler gesehen haben. Wir müssen objektiv feststellen: Charismatische Menschen haben desaströse Spuren und unermessliches Leid in der Weltgeschichte hinterlassen.

Deswegen will ich davor warnen, Charisma grundsätzlich als etwas Positives zu betrachten. Man kann sogar formulieren, dass demokratische Systeme von Gewaltenteilung dazu ersonnen wurden, um charismatische Einzelpersonen einzuhegen, die eben nicht immer nur gut sind. Bleiben wir bei der Wortherkunft: Charisma als ‚Gnadengabe‘ kann zum Danaergeschenk werden.

Kann man Charisma einbüßen oder verlieren?

Natürlich. Charisma ist etwas Außeralltägliches und es kann, gerade auf lange Sicht, Abnutzungseffekte geben. Nehmen wir einmal Napoleon, der als charismatische Führungspersönlichkeit par excellence gilt. Als er aus der ersten Verbannung zurückkommt, kann er mit seiner Ausstrahlungskraft die altgedienten Soldaten überzeugen, ihm noch einmal ins Feld zu folgen. Aber spätestens nach Waterloo 1815 verliert er ein großes Maß seines Charismas.

Das heißt, dieses Geschenk, diese Gnadengabe, die muss auch gepflegt werden. Beidseitig. Denn Charisma ist eine soziale Beziehung, wie Macht und insbesondere Soft Power generell, bei der es auf der einen Seite immer einer Führungspersönlichkeit bedarf, und auf der anderen Seite Anhänger, Jünger oder wie auch immer man sie bezeichnen mag.

Wie sieht es etwa mit Greta Thunberg aus. Sie hat objektiv keine Hard Power. Ist sie dennoch mächtig?

Ich glaube, sie ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie Einzelpersonen Einfluss auf Politik und Geschichte haben können, ohne in bestimmten Ämtern sein zu müssen. Thunberg zeigt aktuell, wie Personen aus sich selbst heraus mit den ihnen zu Verfügungen stehenden Mitteln und Möglichkeiten Macht ausüben können. Sie hat kein politisches Amt. Aber sie hat Soft Power, hat Reichweite, etwa in den sozialen Medien, sie spricht vor den Vereinten Nationen, und wenn sie sich äußert, hat das weltweit Auswirkungen.

Müssen wir die Persönlichkeiten von Machthabern wieder verstärkt in den Blick nehmen?

Der Faktor Persönlichkeit ist nicht alles. Wir müssen ergebnisoffen fragen: Wer spielt eine Rolle in politischen Entscheidungsprozessen, in Zeitgeschichte, in historischen Abläufen? Und hier komme ich mehr und mehr zu der Einsicht, dass wir eine Art von Synthese brauchen zwischen Strukturen und Akteuren.

Auf der einen Seite gibt es Strukturen und Umfeld, die Personen prägen und zu einem gewissen Maße auch erst zu dem machen, was sie sind. Auf der anderen Seite aber gibt es Einzelpersonen, die meiner Meinung nach eine große Rolle spielen. Wir sehen auch in der heutigen Politik viele Persönlichkeiten, ohne die die Welt heute wohl nicht so wäre, wie sie ist; ganz aktuell etwa ohne einen Putin. Um internationale Politik in Gänze zu verstehen, müssen wir daher Faktoren wie Persönlichkeit und Charisma mit in die Analyse aufnehmen.

Im Interview mit Sebastian Eckert

Greta Thunberg: Keine Hardpower, aber Einfluss
Greta Thunberg: Keine Hardpower, aber Einfluss © Anders Hellberg, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons
Nelson Mandela
Nelson Mandela © Library of the London School of Economics and Political Science, No restrictions, via Wikimedia Commons
Hendrik Ohnesorge
Hendrik Ohnesorge © Barbara Frommann / Uni Bonn

Im Hypothese Podcast analysiert Hendrik Ohnesorge Macht, Persönlichkeiten und Charisma ausführlich.

Sammelband
Hendrik W. Ohnesorge (Hrsg.): Macht und Machtverschiebung. Schlüsselphänomene internationaler Politik – Festschrift für Xuewu Gu zum 65. Geburtstag,
De Gruyter Oldenbourg, 588 S., 59,95 Euro

Wird geladen