22. Mai 2023

Keine Verwirrung mehr beim „Plastik-Wechseln“ Wie Wissenschaft und Pflegepraxis gemeinsam Krankenhaus-Kommunikation verbessern

Wie Wissenschaft und Pflegepraxis gemeinsam Krankenhaus-Kommunikation verbessern

Immer mehr Kliniken müssen auf zugewanderte Pflegefachpersonen setzen. Doch sprachliche und kulturelle Barrieren sorgen schnell für Missverständnisse. Gemeinsam mit dem Stab der Pflegedirektion des Universitätsklinikums Bonn (UKB) entwickeln Bonner Forschende der Abteilung für Interkulturelle Kommunikation und Mehrsprachigkeitsforschung (IKM) eine Schulung für Praxisanleitende auf den Stationen. Dort werden sie für sprachlich-kommunikative Herausforderungen sensibilisiert und erproben Methoden, um Einarbeitung und Integration zugewanderter Pflegefachpersonen noch effektiver zu gestalten.

Simone Borlinghaus und Julia Beilein von der Abteilung für Interkulturelle Kommunikation verbessern gemeinsam mit Pflegekräften die Kommunikation auf den Stationen.
Simone Borlinghaus und Julia Beilein von der Abteilung für Interkulturelle Kommunikation verbessern gemeinsam mit Pflegekräften die Kommunikation auf den Stationen. © Fotos: Universitätsklinikum Bonn / Rolf Müller
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Hektisch geht es zu auf der Intensivstation. Ein kleiner Satz, zwischen Tür und Angel ausgetauscht: „Kannst du mal bei Herrn Müller auf Zimmer 12 das Plastik wechseln?“ Für erfahrene Pflegefachpersonen auf dieser Intensivstation ist sofort klar, was die Praxisanleitende meint: Ein Katheterwechsel steht an. Doch nicht nur eine zugewanderte Pflegefachkraft, auch langjährige Kolleg*innen anderer Stationen stehen hier vor einem Rätsel.

Ein bekanntes Problem für Simone Borlinghaus von der Abteilung für Interkulturelle Kommunikation und Mehrsprachigkeitsforschung (IKM). „Dies ist ein klassischer Fall vom Einsatz umgangssprachlichen Fachjargons und mangelnder Sprachsensibilität auf Seiten des Stammpersonals“, meint die Koordinatorin des deutschlandweit einzigartigen Projekts „Perspektive Integration - Sprache im Beruf (PIB)“.

Gemeinsam mit ihrer Kollegin Julia Beilein, eLearning-Expertin für die Weiterbildungsprogramme Deutsch als Zweitsprache der Abteilung IKM, schult sie in dem seit 2016 bestehenden Projekt Fachleute im Bereich Sprachförderung am Arbeitsplatz. Als vermehrt Berufstätige aus dem Bereich Pflege und Gesundheit an dem Weiterbildungsangebot teilnahmen, entstand gemeinsam mit Diplom-Betriebspädagogin Andre Loibl, Stabsstelle Pflegedirektion am UKB, die Idee zu einer dreitägigen Inhouse-Fortbildung für UKB-Praxisanleitende. Wissenschaft trifft Praxis!

Neu Zugewanderte stehen in ihrem erlernten Beruf vor der Herausforderung, sich in einem für sie fremdenLand nicht nur ein neues Arbeitsumfeld berufssprachlich aneignen, sondern auch auch fachspezifisch in eine fremde Arbeitskultur einarbeiten zu müssen.

„Wir haben mehrere Hundert Pflegefachpersonen aus Asien, Mexiko und Osteuropa mit B1- oder B2-Sprachniveau und mindestens einem Bachelorabschluss im Bereich Pflege, die auch lange bei uns bleiben. Die Ausgangsbasis ist gut, doch häufig bereiten die Sprachkurse nicht wirklich auf den Arbeitsalltag vor. Zusätzlich sehen wir Verbesserungspotenzial bei unseren Mitarbeitenden, die diese einarbeiten“, berichtet Loibl. „Mit der Schulung wollen wir unsere Praxisanleitenden dabei unterstützen, den sprachlichen Anforderungen an die Einarbeitung ihrer neuen Kolleg*innen besser gerecht zu werden und erfolgreicher zu kommuni-
zieren.“

Sprache ist im Arbeitsalltag der Pflegekräfte wichtigstes Medium, denn immer begleiten Pflegefachpersonen ihre Tätigkeit erklärend. Gelegentlich überschneiden sich die situativen Anforderungen: Sie müssen gleichzeitig empathisch und alltagssprachlich, aber auch fachspezifisch genau kommunizieren. „Pflegefachpersonen müssen verschiedene sprachliche Register beherrschen“, weiß Borlinghaus.

Die praxisnahen Inhalte der Weiterbildung sind angepasst an den individuellen Einsatzort am UKB, erläutert Beilein: „Im Vorfeld beobachtete meine Kollegin Simone Borlinghaus beispielhaft den Arbeitsalltag auf einer Station: Welche Sätze fallen häufig? Wo sind die sprachlichen Stolpersteine? Wo kann man sprachlich unter die Arme greifen?“

Im zweiten Schritt schulen die beiden Wissenschaftlerinnen rund ein Dutzend Praxisanleitende in Methoden der Sprachförderung und ermutigen sie zur Reflektion ihres Sprachgebrauchs. „Es hat vielen die Augen geöffnet, als wir Begriffe fürs Wasserlassen gesucht haben. Natürlich kennt nicht jeder umgangssprachliche Begriffe wie ‚strullen‘ oder ‚für kleine Mädchen oder Jungs gehen‘. Was man sich als Muttersprachler*in meist herleiten kann, ist für Nichtmuttersprachler*innen schwierig zu verstehen. Meist lernen sie dies auch nicht im Sprachkurs.“

„Wir sensibilisieren die Teilnehmenden für Varianten des Sprachgebrauchs wie Regiolekt, Berufssprache und Fachsprache, aber auch dafür, dass die unterschiedlichen Stationen oftmals ihren eigenen Sprachstil pflegen, der von anderen schon nicht mehr verstanden wird“, berichtet Borlinghaus. Bewährt habe sich etwa die Einführung von feststehenden Formulierungen: So wird aus „Plastik wechseln“ dann „Katheter tauschen“. „Dadurch wird sprachliche Sicherheit gegeben“, ergänzt Beilein.

Auch bei den oftmals besonders hektischen Übergabesituationen gab es Verbesserungen: „Wir helfen bei kommunikativ anspruchsvollen Situationen wie der Dienstübergabe oder auch bei Telefongesprächen durch von uns entwickelte Materialien, die gemeinsam mit den Teilnehmenden für einzelne Stationen angepasst werden. So werden vermehrt Übergabebögen eingesetzt. Gerade neu zugewanderte Pflegefachpersonen können damit schriftlich vorstrukturieren, was sie während der Übergabe mündlich mitteilen müssen“, so Beilein.

Bewährt haben sich auch anders formulierte Rückfragen der Praxisanleitenden: „Statt ‚Hast du das verstanden?‘ fragen sie nun ‚Kannst Du kurz zusammenfassen was Du jetzt machen sollst?̒ oder ‚Was sollst du jetzt als erstes machen?‘, so Borlinghaus. Das sei wichtig, da viele Zugewanderte andere Arbeitskulturen gewohnt sind. „Es fällt ihnen schwer zu sagen ‚Nein, ich habe das nicht verstanden‘ – auch wenn sie Aufgaben rein sprachlich nicht erfasst haben“, berichtet Borlinghaus. Gezieltes Nachfragen helfe, potenzielle Unsicherheiten im Vorfeld zu erkennen.

Das Feedback der ersten beiden Kursreihen sei sehr gut gewesen, bestätigt Loibl. Die Inhalte seien auf Anklang gestoßen. „Viele Praxisanleitende freuen sich, wichtige Tools und innovative Lehrmethoden aus dem Bereich Kommunikation zu erhalten und ihr kommunikatives Verhalten weiterentwickeln zu können. Aber auch die Reflektion des eigenen Selbstverständnisses und der Erfahrungsaustausch über Integration und Einarbeitung zugewanderter Pflegefachpersonen ist ein Plus für sie“, so Loibl.

Der Nutzen ist hoch. So hoch, dass 2023 weitere Weiterbildungen durchgeführt werden.

Simone Borlinghaus und Julia Beilein von der Abteilung für Interkulturelle Kommunikation verbessern gemeinsam mit Pflegekräften die Kommunikation auf den Stationen.
Simone Borlinghaus und Julia Beilein von der Abteilung für Interkulturelle Kommunikation verbessern gemeinsam mit Pflegekräften die Kommunikation auf den Stationen. © Fotos: Universitätsklinikum Bonn / Rolf Müller
Im Rahmen der Inhouse-Schulung reflektierten die Teilnehmenden auch das Selbstbild ihres Berufs, und analysierten kulturelle und sprachliche Kommunikationssituationen.
Im Rahmen der Inhouse-Schulung reflektierten die Teilnehmenden auch das Selbstbild ihres Berufs, und analysierten kulturelle und sprachliche Kommunikationssituationen. © Fotos: Universitätsklinikum Bonn / Rolf Müller

Die IKM bietet mit dem Weiterbildungsstudium Deutschals Zweitsprache (WBS DaZ Bonn) und dem Projekt Perspektive Integration – Sprache im Beruf (PIB) aktuell zwei Programme an, die sich dem nachhaltigen Transfer (fremd-)sprachdidaktischer Forschungsergebnisse in die Berufs- und Bildungspraxis widmen. Noch bis Ende 2023 fördert das Ministerium für Kultur und Wissenschaft (MKW) beide Projekte. Die Programme zielen durch die Vermittlung von sprach- und kultursensiblen Fördermöglichkeiten gleichermaßen auf eine nachhaltige gesellschaftliche Integration von (neu) zugewanderten Menschen wie auf die Ermöglichung und Sicherung von Chancengleichheit in den Ausbildungs- und Arbeitsstätten.
Während sich die klassischen DaZ-Weiterbildungen an Universitäten primär an Akademiker*innen richten, adressiert PIB anleitende Personen unterschiedlichster Branchen, die mit angehenden oder bereits ausgebildeten zugewanderten Fachkräften zusammenarbeiten, sowie Lehrkräfte mit Bezug zur beruflichen Aus- und Weiterbildung. Sie werden zu Multiplikator*innen für die sprach- und kultursensible Gestaltung in Ausbildung und Arbeitswelt geschult und gezielt für die sprachlich herausfordernden Situationen am Arbeitsplatz sensibilisiert.

Mehr dazu unter https://www.ikm.uni-bonn.de/weiterbildungsstudium/pib

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