Vorsichtig zieht Petra Linscheid eine große Mappe aus dem Schrank. Zum Vorschein kommt ein rund 1500 Jahre altes Leinentuch, mittig verziert mit einem bunten, leicht löchrigen Webmuster mit Blattmotiven. Es stammt aus einem Grab in Ägypten.
„Das trockene Klima ist sehr günstig, damit die Stoffe nicht vergehen“, erklärt Linscheid. Zwei kleine rote Löcher und Verfärbungen von der Bestattung sind unten zu sehen.
„Anhand der Verfärbungen wissen wir, dass es später als Grabtuch verwendet wurde. Die Rostflecken stammen hingegen aus der Gegenwart und weisen darauf hin, dass der Stoff mit Nägeln an der Wand eines Sammlers befestigt gewesen war. „Diese einfachen Leinwandbindungen gab es in allen Kulturen. Aber diese schöne Musterbildung durch Wirkerei, die gab es etwa auch im Barock – nicht aber bei den Franken, die sie zwar von den Römern her kannten, aber bewusst nicht nutzten – weil es nicht zu ihrer Identität und Kultur passte.“
Spannend wird es beim Blick in das Mikroskop. Mehrere Stunden untersuchen die Forscherinnen jeden Stoff, analysieren nicht nur die Webtechnik, sondern auch die Fadenherstellung. Bei dieser lässt sich Spannendes herauslesen. „Sie sehen hier, dass diese verdrehten Fäden S-gesponnen sind. Das heißt, die Drehungen verlaufen von oben links nach unten rechts, wie es in Ägypten, Palästina und Syrien üblich war. Das andere ist – Z-gesponnen – wie es in Kleinasien und Europa üblich war. Das hilft, wenn man einen Stoff gar nicht einordnen kann. Wir finden manchmal auch Z-gedrehte Fäden in ägyptischen Woll-Applikationen. Diese sind meist besonders fein, etwa aus Kaschmir, und oftmals mit Purpur gefärbt. Dadurch kann man auf Import und Handelsbeziehungen schließen“, so Linscheid. Die Ägypter nutzten die importierten Wollfäden, um ihre Stoffe aufzuwerten.
Dann zeigt Linscheid auf eine Fehlstelle, erläutert: „Hier wurden Stücke entfernt. Während des archäologischen Booms infolge der Ägypten-Expedition Napoleons bis zu Beginn des 21. Jahrhundert war es üblich, Gräber zu plündern, Teile herauszuschneiden und diese dann zu verkaufen.“ Die einzelnen Fetzen dienten oft dazu, die Techniken zu erforschen, landeten letztlich auf verschlungenen Wegen weltweit verstreut in Museen, Schränken oder auf Dachböden.
Wichtig sind fest datierte Stoffe, die in eine Online-Datenbank an der Universität Bonn eingepflegt werden. Dadurch lassen sich historische Entwicklungen feststellen. Ursprüngliche Stoffe und Muster lassen sich digital rekonstruieren. „Mich begeistert methodisch das Visuelle. Es hat auch sehr viel mit der Lust am Puzzeln zu tun. Verschiedene Stücke aus einem Grab, verschiedene Fragmente eines Stücks, auf verschiedenen Orten verteilt, die wir so wieder zusammenfügen können“, erklärt sie.
Während die ägyptischen Materialien oft gut erhalten sind, sieht es bei Funden aus dem frühen Frankenreich schlecht aus. Ein Stück aus dem Bestand des LVR-LandesMuseums Bonn, das die beiden aktuell untersuchen, misst gerade einmal einen Quadratzentimeter. Dass es sich bei dem verkrusteten Stück auf dem Gürtelbeschlag um gewebten Stoff und nicht um bloßen Dreck handelt, dafür braucht es die geschulten Augen von Lubos und Linscheid.
Es ist ein Glücksfund, aus einem Grab, erhalten durch eine chemische Reaktion mit dem Metall des Gürtelbeschlags. „Durch die Feuchtigkeit entstehen Korrosionssalze, die in die Textilien eindringen und sie konservieren“, erläutert Linscheid. Dadurch bleiben nicht nur Hinweise zur Herstellungstechnik erhalten. „Wir können dadurch viel über die materielle Kultur herausfinden, über Traditionen und auch gesellschaftliche Entwicklungen“, so Linscheid.
„Die Archäologie hat sehr lange und überwiegend ohne Textilien gearbeitet, da diese als organische Materialien vergehen“, erläutert Lubos. Ein Grund, warum viele Rekonstruktionen heute leer wirken. „Das ist schade. Natürlich waren Stoffe in der damaligen Lebenswirklichkeit sehr präsent, sowohl bei Kleidung, aber auch bei der Ausstattung der Räume“, erläutert Linscheid.
Besonders im Frühmittelalter, wo schriftliche Quellen selten waren, sind Grabbeigaben und Kleidungsreste eine wichtige Hilfe. „In der Zeit des Übergangs zwischen Antike und Mittelalter ist wahnsinnig viel passiert, über das wir wenig wissen“, erläutert Linscheid. Durch die Untersuchung vieler Funde lassen sich regionale oder zeitliche Regelmäßigkeiten bei Mustern und verarbeitungstechnischen Merkmalen herausfinden. „Anders als bei den ägyptischen Stoffen kennen wir ja bei den lokalen Funden den Kontext, zum Beispiel die genauen Gräber, in denen Beigaben lagen“, so Linscheid. „So können wir feststellen, ob in fränkischen Männergräbern einer Region im 7. Jahrhundert immer die gleiche Fertigungstechnik zum Einsatz kam, oder ob Gewänder an bestimmten Stellen stets geschlitzt waren.“ Daraus ließe sich ableiten, welcher Stile üblich war, oder ob es kulturelle Zugehörigkeiten gegeben hat. Denn obwohl die Franken sich beispielsweise römischer Webtechniken bewusst waren, blieben sie bei ihren Fertigungs-Traditionen. Sie hatten ihren eigenen Stil.
Prinzipiell wurden die Gewebe komplexer, Stoffe wurden auf beiden Seiten komplementär gemustert. „Einer der spannendsten Funde ist ein Fragment aus einem frühmittelalterlichen Grab, wo verschiedene kleinteilige Mustertechniken raffiniert in einem einzigen Gewebe zum Einsatz kamen. Wir konnten die Technik auch in anderen Gräbern finden. Das verändert auch die Vorstellung, wie die Menschen im Frühmittelalter gekleidet waren. Man lief auch im Frühmittelalter nicht in Sackleinen umher“, so Linscheid.
Nur eines ist fast unmöglich herauszufinden. „Wir können dadurch viel über Techniken herauslesen, und Gebräuche der Franken. Aber es juckt einen natürlich auch unter den Fingern herauszufinden, welche Farben angesagt waren“, so Lubos. Doch viele Farbpigmente haben sich zersetzt.Der rostrote Ton ist ebenjenes: Eisenoxid.