Nachgefragt - Interview zum Artikel - Artikel als Visual Story
Am 9. Dezember 1941 wurde Leo Polak im KZ Sachsenhausen von Nationalsozialsten ermordet. Protokollen des KZ-Personals zufolge wurde er zu Tode geschlagen. Im Februar des Jahres hatten die Nazis den niederländischen Freidenker, Rechtsgelehrten und Philosophen aus seiner Wirkungsstätte, der Universität Groningen, in das Lager nördlich von Berlin deportiert. Polak war - obgleich nicht praktizierend - jüdischer Abstammung. Derjenige Teil seines Hab und Guts, den er nicht mehr rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte, wurde beschlagnahmt und verkauft.
Neun Bücher aus seinem Besitz finden sich heute in der ULB Bonn. Vorsichtig nimmt sie Tobias Jansen aus dem Regal, schlägt eine der ersten Seiten auf. „Polak“ steht dort. Ob es sich bei den neun Bänden tatsächlich um Raubgut handelt, wird aktuell erforscht. Möglicherweise ist es eines von vielen Büchern, die nicht nach Bonn, sondern in die Hände der Erben der Opfer nationalsozialistischer Verbrechen gehören. Das ist die Aufgabe, an der Tobias Jansen in einem achtköpfigen Team beim vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste geförderten Projekt „Ermittlung von NS-Raubgut in der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn“ arbeitet.
Mehr als zwei Millionen Medien besitzt die ULB. Drei Stockwerke geht es unter dem Gebäude an der Adenauerallee in die Tiefe. Dort stehen Bücher in Regalen und Kompaktanlagen, kilometerlang. Wie soll man da geraubte Bücher finden? „Es ist manchmal echte Detektivarbeit“, räumt der Historiker ein. Zum einen kann man die Bestände bereits eingrenzen: Der Fokus liegt natürlich auf Zugängen zwischen 1933 und 1950. Betroffen können zudem nur Bücher mit einem Erscheinungsdatum vor 1945 sein. Bücher aus verdächtigen Zugängen werden durchgeblättert, untersucht auf Stempel, Paraphen oder andere Merkmale, hinter denen ein Schicksal stecken kann. „Wir ermitteln, was wir im Haus haben, und verschaffen uns einen Überblick über die damaligen Arbeitsabläufe und Prozesse“, so Jansen.
Bei der Spurensuche helfen zudem die alten Akzessionsjournale. In diesen Eingangsbüchern sind für die Zeit zwischen 1933 und 1950 mehr als 61.000 Erwerbszugänge mit teils weitaus mehr Büchern verzeichnet. Gibt es dort Hinweise zu den Büchern, werden sie im Haus mithilfe der diversen Findmittel, wie dem Suchportal ‚bonnus‘ oder älteren Zettelkatalogen identifiziert. Gelingt dies nicht, so wird im sogenannten ‚Katalog der Kriegsverluste‘ geprüft, ob sie vielleicht zu den Verlusten des Zweiten Weltkriegs zu zählen sind. Die damalige Universitätsbibliothek ging 1944 beim alliierten Luftangriff auf Bonn in Flammen auf; circa 180.000 Bücher wurden dabei zerstört. Aus den genannten über 61.000 Erwerbungen wurden bislang fast 4.000 als „verdächtig“ eingestuft; bei fast 600 „heißen Kandidaten“, die die Projektmitarbeitenden entdeckt haben, ist gesichert von Raubgut auszugehen. Vermutlich wird sich die Zahl noch weiter erhöhen.
Viele Bücher gelangten etwa aus der von den Nationalsozialisten sogenannten Ordensburg Vogelsang nach Bonn, aber auch von damaligen Behörden wie diversen rheinischen Bürgermeisterämtern, der Gestapo Düsseldorf oder Wuppertal sowie teils bedeutenden Antiquariaten im In- und Ausland. Jansen zieht aus der blauen Kompaktanlage ein Buch hervor, das erst 2016 in die ULB gelangte. Eigentlich gehört es einer ukrainischen Bibliothek, wurde vor 1944 aus einer Gartenbauschule geraubt. Ein Wehrmachtsangehöriger hatte es offenbar von der Ostfront zurückgebracht. Angesichts heranrückender sowjetischer Truppen schnitt die Ehefrau den verräterischen Bibliotheksstempel heraus. „Vermutlich hatte sie Angst, dass man die Bücher bei ihr entdeckt“, meint Jansen. Hätten die Truppen das Buch gefunden, wäre sie in Erklärungsnot geraten. Doch was sie nicht wusste: Viele Bücher haben noch Geheimstempel, die heute eine Identifikation ermöglichen. Die Gartenbauschule ist inzwischen Teil einer Universität. Gut möglich, dass das Buch langfristig restituiert werden kann.
Zu weiteren prominenten Funden gehören Buchreihen des Strafverteidigers Max Alsberg. Alsberg wurde in Bonn geboren, studierte unter anderem hier, bevor er in Berlin als Notar und Strafverteidiger arbeitete. Als Jude verfolgten ihn die Nazis ab 1933 und zerstörten in nur wenigen Monaten seine Existenz und sein Lebenswerk, zu dem auch eine Kunst- und Büchersammlung zählt. Verzweifelt und gebrochen erschoss er sich noch im September 1933 in seinem Schweizer Exil. Die gefundenen Bücher werden, falls möglich, restituiert und ihre Herkunft im Bibliothekskatalog bonnus verzeichnet, damit die Forschungsergebnisse sowohl für Wissenschaftler* innen, aber auch für die Studierenden zugänglich sind.