Schon bald könnte diese Zukunftsvision dank der Fortschritte in der Simulations- und KI-Technologie Realität werden. Doch was bedeuten digitale Zwillinge aus ethischer und sozialer Sicht – haben sie für Menschen nur Vorteile, und wie wirken sie sich auf ihr Zusammenleben aus? Mit diesen Fragen beschäftigt sich Matthias Braun, Professor für (Sozial-)Ethik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät.
Drei Dinge machen einen digitalen Zwilling aus: „Erstens eine individuell abgestimmte Simulation, die zweitens verschiedene Zustände und Funktionsweisen von ursprünglich Gebäuden, Städten und anderen Systemen und neuerdings auch des menschlichen Körpers in Echtzeit darstellt und drittens auf dieser Basis zukünftige Zustände vorhersagt“, so Braun.
Digitale Zwillinge sollen etwa die individuelle gesundheitliche Entwicklung in Abhängigkeit von Ernährung, Bewegung und genetischen Markern prognostizieren. Sie können auch als virtuelle Abbilder von Organen, Körperfunktionen oder des gesamten Körpers fungieren. Daran lassen sich Gesundheitsrisiken, Krankheitsverläufe und Therapieerfolge vorhersagen.
Die Zukunftsvision birgt viele rechtliche und ethische Fragen. Wem gehören die Daten? Wer darf über das simulierte Selbst bestimmen? Matthias Braun bringt hier das ethische Konzept des Leibes ins Spiel. Ähnlich wie bei einer Prothese erhält man das Recht zu entscheiden, was mit dem digitalen Zwilling passieren soll.
Weitere Fragen beziehen sich auf die Konsequenzen der Prognosen, die ein digitaler Zwilling abgibt: „Welches Vertrauen werden Menschen in ihren digitalen Zwilling haben? Ändern sie ihr Verhalten angesichts seiner Einschätzung? Und solltees Konsequenzen haben, wenn sie diese ignorieren – sie sich später jedoch bewahrheitet?“ fragt Braun.
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Bessere Schlaganfall-Therapie durch Digitale Zwillinge?
Bereits in acht Jahren könnten Zwillinge bei Schlaganfällen Anwendung finden. Daran forscht seit Kurzem das europäische Konsortium „Gemini“ (lateinisch „Zwilling“). 19 Institute unter Federführung des Universitätsklinikums Amsterdam haben von der Europäischen Kommission eine Horizon-Förderungin Höhe von zehn Millionen Euro erhalten. Braun ist für die Erforschung ethischer und regulativer Fragen verantwortlich.
Die Forschenden wollen die Behandlung für einzelne Schlaganfallpatient*innen zunächst am Zwilling testen. Mediziner* innen geben dafür Blutdruck, Herzrhythmus, Informationen aus dem Gehirnscan und andere medizinische Daten der Schlaganfallpatient*innen ein. Am „digitalen Abbild“ werden Therapien dann simuliert, um maßgeschneiderte Behandlungsmethoden zu finden.
„Wird deutlich, dass es verschiedene erfolgsversprechende Optionen gibt, stellt sich die Frage, wer eine Entscheidung
stellvertretend für die betroffene Person treffen sollte“, erklärt Matthias Braun. „Uns beschäftigt insbesondere, welche
moralische wie rechtliche Handlungsmacht solchen Simulationen in einer Notfallsituation zukommen sollte. Kann und
darf die Simulation stellv ertretend entscheiden?“